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#29: Wann willst du anfangen zu leben?

Die Dämmerung fällt blau-violett über die Bucht, kleine Wellen gluckern leise gegen den Rumpf und eine kühle Brise umarmt das sanft schaukelnde Segelboot. Am Nachmittag haben wir hier geankert, sind in der warmen Sommersonne nackt ins kühlende Salzwasser gesprungen und an Land geschwommen.

Wenn meine Eltern Tagesausflüge mit dem Boot gemacht haben, ging ich selten mit. Lieber habe ich allein die Natur rund um unser Haus erkundet. Doch stand eine Übernachtung auf dem Wasser in Aussicht, war ich immer dabei.

Damals war es mir noch lieber, wir hatten einen Liegeplatz in einer Marina, wo ich mit meinem Bruder direkt vom Deck an Land hüpfen konnte. Rückblickend waren aber die einsamen Ankerplätze die wirklich magischen, lebensverändernden Erfahrungen.

Ich konnte mir vorstellen, vor uns wären dort noch nie Menschen gewesen. Wir wären die ersten, die eine neue Welt entdecken.

Seit Anfang des Jahres fliege ich wieder Verkehrsflugzeuge – in Teilzeit, versteht sich. Neues Flugzeugmuster, neues Streckennetz, wieder eine neue Welt. Mein heutiger Kollege im Cockpit ist auch Segler. Auf einem achtstündigen Langstreckenflug hat man viel Zeit, sich zu unterhalten und kennenzulernen. Er erzählt, wie er als Sechzehnjähriger mit einem Freund allein über die Ostsee fuhr, später segelte er in neunzehn Tagen von den Kanaren nach Martinique.

Nicht immer treffen wir im Leben Menschen, mit denen wir so viel gemeinsam haben. In letzter Zeit passiert mir das jedoch immer häufiger. Sind es Zufälle oder ist es eher so, dass zufällt, was fällig ist? Ich glaube, wir ziehen das an, was wir ausstrahlen.

Bei mir ist das der Wille, alles aus meinem Leben herauszuholen, etwa so wie es Henry David Thoreau in Walden beschreibt: „Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen und so standhaft und spartanisch leben, um alles, was nicht Leben war, davonzujagen.“

Ich war so oft vernünftig. Habe einen angesehenen, sicheren Beruf gewählt, in dem ich gut verdiene. Habe Geld gespart für eine Immobilie. Und gleichzeitig habe ich gelebt, war unvernünftig. Habe das Haus viel größer gebaut als nötig. Meine Arbeitszeit im Cockpit reduziert, um mich zuerst als Fotograf und dann als Speaker und Trainer selbstständig zu machen.

Wer sagt, was vernünftig und unvernünftig ist? Es scheint dafür einen Konsens in der breiten Masse der Gesellschaft zu geben, der gebetsmühlenartig wiederholt wird, bis er vermeintlich wahr wird. Das kennen wir aus den letzten drei Jahren.

Diese Zeit hat einen unaufhaltsamen Wandel angestoßen. Ich kenne so viele Menschen, denen die Augen dafür geöffnet wurden, auf welch schmalem Grat unsere Freiheit steht und wie wichtig es ist, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.

Mit einer Lebenserwartung von achtzig Jahren bin ich ungefähr bei der Hälfte angelangt. Die Midlife-Krise ist in vollem Gange. Bei mir ist es bloß kein Sportwagen, sondern ein Lkw. Vor allem beschäftigen mich aber die Fragen nach dem Sinn, den weiteren Plänen für mein Leben. Was will ich bewirken? Was will ich der Welt geben?

In den letzten Monaten muss ich immer wieder an einen Aphorismus denken. Wir haben zwei Leben. Das zweite beginnt wenn wir erkennen, dass wir nur eines haben. Damit gehe ich stark in Resonanz.

Wie oft ziehen Eltern ihr Kind weiter, wenn es von einer Pusteblume am Straßenrand in ihren Bann gezogen wird? „Komm, da vorn wollen wir hin, da ist es besser.“ Das wird die Blaupause für unser Leben. Morgen, im Sommer, nächstes Jahr, wenn ich pensioniert bin… Schluss damit!

Das Leben ist jetzt zu leben. Ohne den Blick auf das große Ganze zu verlieren. Doch dazu mehr nächste Woche.

#machdichfrei

Dein Ulrich

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