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Luftfahrt

Der Traum vom Fliegen – in den Himmel und darüber hinaus

Wir schreiben das Jahr 1995, ich bin 12 Jahre alt. Ich habe die letzten fünf Jahre in den USA gelebt und besuche im Sommer meine Heimat in Deutschland. Dort fliege ich mit dem Vater eines Freundes auf dem Copilotensitz eines einmotorigen Flugzeuges. Von diesem Moment an ist mein Schicksal besiegelt. Den Boden unter mir schwinden zu sehen, die Welt durch das Panoramafenster dieses winzigen Cockpits zu betrachten geben mir eine neue Perspektive auf das Leben und das Universum, in dem wir leben. Wieder in den USA angekommen spreche ich nur noch übers Fliegen. Ich liege meinen Eltern so lange damit in den Ohren, bis sie mir meine erste Flugstunde in einer Aerospatiale Tampico bezahlen. Zwei Jahre lang bekomme ich jeden Monat an Stelle eines Taschengeldes eine Flugstunde. Es reicht nicht für große Fortschritte (ich bin ohnehin zu jung, um meine Privatpilotenlizenz zu erhalten), aber es ist das coolste Gefühl der Welt! Ich bin ein Kind, das ein halbes Jahrzehnt lang noch kein Auto lenken dürfen wird. Doch hier fliege ich Steilkurven, übe Strömungsabrisse und lande fast ohne Hilfe des Lehrers ein Flugzeug! Mit einem ähnlich großen Interesse am Weltall gehe ich bald einen Schritt weiter und will nicht nur Pilot, sondern Astronaut werden. Bücher über Luft- und Raumfahrt liegen in meinem Kinderzimmer verstreut. Ich mache für alles Checklisten, auch für mein größtes Hobby, die Fotografie.
Als wir 1997 nach Deutschland zurück ziehen, verschwindet die Fliegerei aus meinem Leben. Flugstunden auf Motorflugzeugen sind in Europa exorbitant teuer. Die Zeit vergeht, ich mache mein Abitur und mein Vater fragt mich, was ich werden möchte. Ich habe versucht, diese Frage zu vermeiden, denn der Pilotenberuf beinhaltet für mich riesige finanzielle Risiken und eine außerordentlich geringe Chance, einen guten Arbeitsplatz zu finden. Ich erinnere mich, wie hart mein Fluglehrer in den USA arbeitete, um genügend Flugstunden für die Chance auf eine Anstellung bei einer Regionalfluggesellschaft zu haben. Es ist alles sehr ungewiss; zu unsicher für jemand, der Struktur und einen klaren Pfad braucht. Als Astronaut ins All zu fliegen scheint noch unwahrscheinlicher, da das wie ein Teilzeitjob klingt, den man einer Karriere als Wissenschaftler oder Militärpilot aufsetzt. Ich könnte nicht schlechter informiert sein! Um die Frage meines Vaters zu beantworten: Ich habe mit dem Gedanken gespielt, Maschinenbau oder Medizin zu studieren. Er erzählt mir, dass eine große deutsche Fluggesellschaft ein fantastisches Trainingsprogramm hat. Vorausgesetzt, man wird angenommen – das schaffen nur 5% der Bewerber – bekommt man eine erstklassige Ausbildung als Verkehrspilot und – vorausgesetzt, man besteht alle Tests, was 95% der Schüler erreichen – ist einem der Arbeitsplatz bei der Airline sicher!

Ich besuche die Rekrutierungswebsite der Airline und mein Traum lebt wieder. Ich sehe Fotos von jungen Menschen, die ihre Flugausbildung in Arizona genießen, und von Piloten in maßgeschneiderten Uniformen, ihre Hände auf den Schubhebeln der großen Jets. Das will ich! Ich bewerbe mich für die Ausbildung und – ein Pilot benötigt immer einen validen Plan B – für einen Medizinstudienplatz. Es folgen zwei Runden Auswahlverfahren. Die erste prüft mein technisch-physikalisches Wissen, Mathematikkenntnisse, Rechenfertigkeit und logisches Denken, Konzentrationsvermögen und Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, räumliches Orientierungsvermögen, Psychomotorik und Mehrfacharbeit sowie relevante Persönlichkeitsmerkmale. Mit dem Bestehen dieser Prüfungen werde ich zu zwei Tagen Einzel- und Gruppentests eingeladen, die meine Kooperation, Koordination, Selbstreflexion, Resilienz, Zuverlässigkeit und Disziplin sowie Engagement und Motivation analysieren. Das abschließende Interview mit einem Kapitän der Airline und mehreren Psychologen, die mich den Großteil einer Stunde mit Fragen löchern, endet mit den Worten „Sie haben bestanden, herzlichen Glückwunsch!“. In diesem Moment fühlt es sich an, als würde ich schon fliegen.

Von Glücksgefühlen getragen kremple ich mein Leben um. Ich lehne den Medizinstudienplatz ab. In den letzten zwei Wochen habe ich Vorlesungen an der Hochschule besucht, in der ich meine Flugausbildung mit einem Ingenieursstudium verbinden möchte. Es ist keine Verpflichtung, vielmehr eine in Deutschland selten genutzte Option. Jetzt kann ich aufhören, bei Kommilitonen und in Hostels zu leben und meine eigene Wohnung suchen, während ich von morgens bis abends lerne. Nach Drei Semestern Vorlesungen, zwei Semestern theoretischer Flugausbildung und dutzenden Prüfungen sitze ich in einer Boeing 747 auf dem Weg nach Phoenix, Arizona. Sechs Monate anspruchsvolles, aber lohnendes Training auf einer Beech Bonanza erwarten mich. An fünf Tagen in der Woche lerne ich, das alte Flugzeug wie einen Airliner zu fliegen. Nach 18 Flügen und 27.5 Stunden darf ich es zum ersten mal allein! Nichts im Leben eines Piloten wird jemals so sein wie dieses erste Solo. Seit wenig mehr als 100 Jahren kann der Mensch in die Luft empor steigen wie die Vögel, die er seit Jahrtausenden bewundert. Wenn man das erste mal ohne Lehrer ein Flugzeug steuert überschreitet man eine Schwelle. Man ist nicht länger ein Wesen des Bodens, man ist ein Wesen der Luft.
Ich werde auf höchstem Niveau trainiert, zunächst nach Sichtflugregeln (raus schauen), anschließend um nur mit den Instrumenten im Flugzeug zu navigieren. In Deutschland habe ich ein letztes Semester Theorieunterricht vor der letzten Prüfungsrunde. Drei Tage Tests, vierzehn Fächer und 10,000 Fragen sind der Olymp, den ein angehender Verkehrspilot besteigen muss. Aufgeregt warte ich auf den Brief der mir bescheinigt, dass ich jedes Fach bestanden habe! Und das Training geht weiter. Die Ausbildung auf mehrmotorigen Flugzeugen erweitert mein Wissen und schon fragt die Airline nach meiner Bewerbung auf Boeing 737 oder Airbus A320. Es ist ein außerordentlicher Luxus, diese Auswahl zu haben. Während meine Kollegen über die geringe Anzahl an Stellen auf 737 enttäuscht sind freue ich mich auf die Einteilung auf A320. Drei Monate im Simulator, ein Check, zwölf Landungen in einem echten A320 und ich bin bereit, Passagiere kreuz und quer durch Europa zu fliegen. Natürlich trainiert und prüft mich drei anspruchsvolle Monate lang noch ein Ausbilder, bis ich einen letzten Check bestehe.

Ich habe es geschafft! Ich bin Verkehrspilot geworden! Jetzt kann ich mich ausruhen, doch ich weiß, dass dies eine lebenslange Reise des Lernens sein wird. Während ich den A320 von Skandinavien nach Nordafrika, von Schottland nach Turkmenistan fliege, wächst mein Wissen. Die Systemausfälle, medizinischen Notfälle und randalierenden Passagiere, mit denen ich in Zusammenarbeit mit meinen Kapitänen umgehe, bereiten mich darauf vor, selbst Kommandant zu sein. Mein nächster Karriereschritt kommt nach zehn Jahren: erster Offizier auf Airbus A380. Es wird noch einige Jahre dauern, bis ich auf den linken Sitz wechsle, doch es gibt viel zu lernen. Je mehr Erfahrung ich habe, umso besser kann ich selbst eine Crew führen.
Und das Weltall? Es ruft noch immer! Im Jahr 2016 startete der französische Astronaut Thomas Pesquet auf eine sechsmonatige Mission auf die Internationale Raumstation. Seine Karriere? Er hatte als Luft- und Raumfahrtingenieur angefangen und arbeitete als Verkehrspilot auf dem gleichen A320, den ich auch geflogen bin. So finden die Puzzleteile ihren Platz: Ich lebe meinen Jugendtraum auf dem Karriereweg, den ich nie für möglich gehalten hatte. Und alles begann, als ein 12-jähriger Junge seinen ersten Flug in einem Sportflugzeug hatte.